Aktuelle Ausgabe

Grenzen überschreiten

Ausgabe: 2/2019
48. Jahrgang
 

Grenzen überschreiten (2/2019)

Christentum zwischen Grenzziehung und Grenzüberschreitung

Stoll, Christian

Das deutsche Wort «Grenze» hat ein vergleichsweise weites Bedeutungsfeld. Als Lehnwort (von altslawisch «granica») vereint es in sich zwei Bedeutungskreise, die in den romanischen Sprachen und auch im Englischen mit zwei verschiedenen Begriffen bezeichnet werden: Da ist zum einen die Grenze im politischen und geographischen Sinn, die Staaten oder Naturräume voneinander trennt; sie trägt in anderen Sprachen ganz unterschiedliche Bezeichnungen (il confine, la frontière, border). Zum anderen wird «Grenze» im Deutschen auch im übertragenen Sinne gebraucht, sowohl in der Alltagssprache («die Grenzen meiner Kräfte») als auch in Wissenschaften wie der Mathematik, der Philosophie und den Geistes- und Kulturwissenschaften.

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Der Sündenfall - eine Befreiungsgeschichte?

Schwienhorst-Schönberger, Ludger

Die Bibel beginnt mit der Erzählung von der Erschaffung der Welt. Dabei spielen Grenzziehungen eine Schlüsselrolle. Aus dem uranfänglichen Tohuwabohu, in dem es keine Grenzen gibt (Gen 1, 2), werden unterschiedliche Lebensräume ausgegrenzt und deutlich voneinander abgegrenzt. Entgegen einer verbreiteten Ansicht ist die Leitidee, die der Erzählung von der Erschaffung der Welt zugrunde liegt, nicht diejenige der creatio ex nihilo. Zwar lässt sich Gen 1, 1 durchaus in diesem Sinne verstehen.1 Seine ursprüngliche Bedeutung zielt jedoch allem Anschein nach nicht auf die Idee einer Schöpfung aus dem Nichts.

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Grenzenlose Optimierung?

Sautermeister, Jochen

Als Ende des 15. Jahrhunderts der italienische Renaissance-Philosoph Giovanni Pico della Mirandola (1463- 1494) mit seiner posthum veröffentlichten Rede über die Würde des Menschen (1496)1 auf das Spezifikum des Menschen hinwies, war noch nicht absehbar, welche tiefgreifenden Auswirkungen der humanistische Ausgriff des Menschen auf sich selbst haben könnte. In der später auch als Manifest des Humanismus bezeichneten Rede, die als Einleitung für eine größere römische Disputation konzipiert war, bestimmte Pico della Mirandola den Menschen gerade dadurch, dass dieser sich selbst zu dem bestimmen und machen könne, was er wolle.

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Die Obsession der Grenzüberschreitung

Schelkshorn, Hans

In der westlichen Weltöffentlichkeit breitet sich seit Längerem eine apokalyptische Stimmung aus. Völlig unterschiedliche Ereignisse wie das Schmelzen der arktischen Eismassen, die Exzesse des Finanzsystems oder die Infragestellung moderner Demokratie durch einen neuen Autoritarismus werden zumindest unterbewusst als Vorboten einer umfassenden Krise des modernen Weltsystems wahrgenommen. Gewiss, die Klage über Ambivalenzen der Moderne bestimmt die Aufklärung seit ihren Anfängen. Während Turgot und Condorcet das 18. Jahrhundert als das «Zeitalter der Vernunft» priesen, sah bereits Jean-Jacques Rousseau gerade im Zivilisationsprozess die Quelle fortschreitenden Unglücks.

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An den Grenzen des Universalismus

Stoll, Christian

Theodor Fontane und Joseph Roth unterscheiden sich in vielem.1 Fontanes Lebensmittelpunkt und auch der Mittelpunkt seines literarischen Werkes bleibt zeitlebens Preußen, der protestantische Hegemon Deutschlands und spätere Triebkraft eines kleindeutschen Nationalstaates. Auch Roths wechselhaftes Leben und Schaffen hat einen (verlorenen) Mittelpunkt: die Welt der Donaumonarchie, der katholische Vielvölkerstaat des Hauses Habsburg. Die Lebensspannen beider berühren sich dabei nur knapp. Das Leben des Älteren umfasst den größten Teil des 19. Jahrhunderts in Deutschland. Es reicht von der Restaurationszeit, über die Märzrevolution und die Einigungskriege bis hin zur Bismarckschen Reichsgründung - eine Geschichte, die Fontane grundsätzlich als nationale Erfolgsgeschichte versteht. Vom großen Krieg ahnt er noch nichts. Roth dagegen erlebt den Weltkrieg, der zum Untergang der Habsburgermonarchie und ihrem Zerfall in Nationalstaaten führt, er leidet an der politischen Radikalisierung der zwanziger Jahre und flieht schließlich vor dem grassierenden Judenhass nach Paris.

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Missionare als kulturelle und politische Grenzgänger in der Frühen Neuzeit

Nebgen, Christoph

Die Wahrnehmung von Landschaften und dementsprechend auch deren Repräsentation in Form einer Karte kann bisweilen sehr subjektiv geraten. In der Wahrnehmungsgeographie spricht man von sogenannten mental maps oder aber kognitiven Karten, die das Resultat eines solchen Verarbeitungsprozesses abbilden. Proportionen können hierbei durcheinandergeraten, Grenzen werden scheinbar willkürlich gezogen, die Darstellung einzelner Landstriche oder aber des ganzen Globus folgt ganz dem individuellen Weltbild des Einzelnen und sagt damit mehr über ihn als über die tatsächlichen geographischen Gegebenheiten aus.

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Katholizität und Nation

Niewiadomski, Józef

Besser konnte die Stunde nicht gewählt gewesen sein. Am 18. November 1965 überschreiten die polnischen Bischöfe mutig eine der wichtigsten Grenzen nationaler Identität des Nachkriegspolens. Die im Zweiten Vatikanischen Konzil hautnah erlebte Erfahrung der Katholizität sensibilisierte sie für die Notwendigkeit, aber auch die Chance der Heilung einer schmerzhaften Wunde im kollektiven Gedächtnis des polnischen Volkes. Schon die im 18. Jahrhundert erfolgten Teilungen Polens, vor allem aber die Zeit und die Verbrechen des Nationalsozialismus generierten im polnisch-nationalen Bewusstsein die Kategorie der generationenübergreifenden Feindschaft zwischen Deutschen und Polen. Das Bild des «hässlichen Deutschen», das in den Darstellungen der grölenden SS-Soldaten im Nachkriegspolen fast allgegenwärtig war, hielt nicht nur die Erinnerungen an die Bedrohung des Krieges wach, es stimulierte Hassgefühle und konnte deswegen von der kommunistischen Propaganda als nationalistisches Bindeglied instrumentalisiert werden.

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Wechselseitig aufgehoben?

von Stosch, Klaus

Die jüngsten Einlassungen von Joseph Ratzinger / Benedikt XVI. zum Verhältnis der katholischen Kirche zum Judentum haben einen wichtigen theologischen Klärungsprozess angestoßen, den ich mit diesem Beitrag fortsetzen möchte. Bevor ich hier in die eigentliche Auseinandersetzung eintrete, seien drei Punkte vorweg festgehalten, die mir jeweils wichtige Denkanstöße zu implizieren scheinen.

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Beschneidung des Herrn

Tück, Jan-Heiner

Der Pegel des Antisemitismus steigt in Europa wieder an. Gewiss, in den abgedunkelten Hinterzimmern der extremen Rechten waren judenfeindliche Überzeugungen nie ganz verstummt. Aber seit kurzem werden auch in der politischen Linken Stimmen lauter, die unter dem Mantel des Antizionismus und der Kritik am Staat Israel antisemitisches Ideengut verbreiten. Hinzu kommen neue Formen eines islamischen Antisemitismus, die das jüdische Leben in seiner Normalität beeinträchtigen, ja bedrohen - ein Problem, das durch die Migranten aus dem arabischen Raum nicht geringer geworden ist.

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Übermütig, todernst

Schwab, Hans-Rüdiger

Zwei Personen in diesem Roman tragen denselben Namen, und Gutes verheißt er nicht: Heinrich Übel. Die eine, senior, hat es als Gummiwaren-Fabrikant mit Sitz in einem Schweizer Hochtal zum regionalen Tycoon gebracht. Die andere, junior, macht sich im Unternehmen als Automatenkontrolleur sowie mäßig erfolgreicher Werbetexter nützlich. Eines Tages bezeichnet der Vater seinen Sohn als «Abfall», der «weit vom Stamm gefallen» sei, und weist ihm die Tür. Zwanzig Jahre später, nach einem Sturz, lässt er ihn erstmals wieder zu sich rufen.

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«Gott loben, das ist unser Amt»

Bieringer, Andreas

Das katholische Gebet- und Gesangbuch «Gotteslob» zählt zu den Erfolgsgeschichten der gottesdienstlichen Erneuerung infolge des Zweiten Vatikanischen Konzils. Als «Rollenbuch» der Gemeinde (vgl. Sacrosanctum Concilium Art. 33) ist die Akzeptanz der 2013 erschienen Neuauflage ähnlich hoch wie die des Vorgängermodells von 1975. Die Erstauflage von 3,6 Millionen Exemplaren legt - abgesehen von der Bibel - nahe, vom letzten «kirchlichen Massenmedium» zu sprechen, dessen Bedeutung über den kirchlichen Gebrauch hinausgeht.

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Stimme, die Stein zerbricht

Zerfaß, Alexander

«Der Glaube kommt vom Hören», schreibt der Apostel Paulus (Röm 10, 17). Er meint das Hören auf die Botschaft dessen, der Jesus Christus verkündet. Diese Botschaft des Glaubens, die man sich sagen lassen muss, gründet letztlich im Wort Christi selbst, so fährt Paulus fort. An entscheidenden Stellen thematisiert die Bibel diesen Gedanken: Autorität gebietend und Vertrauen erweckend ist das Wort, ist die Stimme Gottes. Paradigmatisch zeichnet sich das bereits in der Schöpfung ab (Gen 1). Gott sprach: Es werde, und es ward. Die Logos-Christologie des Johannesprologs sieht dieses Leben spendende Schöpfungswort Gottes in Jesus von Nazareth Fleisch werden. Offenbarung stellt die Schrift weithin als auditiven Vorgang dar. Auf dem Sinai hört Mose die Weisung des Herrn und erhält den Auftrag, sie dem Volk zu sagen. Dass Autorität und Vertrauen wesentlich über die Stimme vermittelt werden, entspricht unserer alltäglichen Erfahrung. Es ist nicht nur, aber doch entscheidend die Stimme der Eltern, die das weinende Kind beruhigt; die Rede, mit der die Politikerin überzeugen muss; das Gespräch, das einen Konflikt löst. So sehr es auch auf den Inhalt des Gesagten ankommen mag, das gesprochene Wort ließe sich in keinem der genannten Beispiele durch ein anderes Medium ersetzen.

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