Wertschätzung für alle Lebensalter (3/2019)
Bieringer, Andreas
«Die Welt ist jung», riefen die Studenten in den sechziger Jahren des vorigen Jahrhunderts mit prophetischem Eifer, und brachen eine Kulturrevolution vom Zaun, die unsere Gesellschaft nachhaltig veränderte. Der Slogan bezog sich nicht nur auf den Protest gegen die Gerontokratie der ersten Nachkriegsjahrzehnte, er lässt sich auch wörtlich verstehen. Denn die hohe Geburtenrate der Jahre zwischen 1955 und 1969 wurde in Mitteleuropa bis dato nicht mehr erreicht. Heute hat sich das Schlagwort der 68er-Bewegung längst ins Gegenteil verkehrt.
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Sievernich, Michael
Als der Protest die junge studentische Generation um 1968 heftig bewegte, erschienen gegenläufig Diskurse ganz anderer Art, nämlich über das Alter. Sangen die jungen Wilden nicht gerade den Abgesang auf die Alten und ihren Muff, sodass die Alten in die literarische Defensive gehen mussten? Oder meldete sich eine anthropologische Konstante der Generationen zu Wort, sodass Veränderlichkeit und Endlichkeit plötzlich Hand in Hand gingen?
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Söding, Thomas
Die westliche Gesellschaft altert1, die Kirche in Deutschland altert mit ihr. Was erneuert sich in diesem Prozess, den viele nur als Krise, nicht aber als Chance sehen? Wer Altersweisheit gegen Jugendwahn stellen oder Jugendarbeit mit Altersdiskriminierung erkaufen wollte, hätte noch nicht einmal die Frage verstanden.
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Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara
Binnen weniger Generationen hat sich ein Umschwung von der Hochschätzung des Alters zum fast ausschließlichen Leitbild von Jugendlichkeit durchgesetzt. Anstelle von Weisheit ist es chic, «kein bisschen weise» zu sein, geradezu «scharf auf Neues». Gelassenheit tauscht mit der Kühle, nein coolness des Draufgängers. Das hat Folgen, nicht nur für die Überschätzung der Jugend, sondern auch für das Selbstbewusstsein der Alten. Denn «Jung-sein-Müssen» und «Nur-nicht-Altwerden» sind harte Imperative.
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Raguz, Ivica
Es ist kein Geheimnis, dass die europäische Gesellschaft älter wird und Menschen im fortgeschrittenen Lebensalter in naher Zukunft wohl den Großteil der Bevölkerung ausmachen werden, hat sich doch die Lebenserwartung vor allem dank verbesserter Lebensbedingungen und medizinischen Fortschritts deutlich verlängert. Dies wird mittelfristig dazu führen, dass Menschen etwa die Hälfte ihres Lebens im fortgeschrittenen Alter verbringen werden. Damit werden Themen zentral, die mit der Art des Sterbens, der Frage nach der letzten Lebensphase angesichts unheilbarer Krankheiten, insbesondere auch der Diskussion über Euthanasie und lebenserhaltenden Maßnahmen sowie der Frage nach altersbedingten geistigen Erkrankungen benannt sind. Hinzu kommt, dass das Alter nicht nur ein Faktum ist, sondern in der heutigen Gesellschaft auch als Problem oder gar als Schande betrachtet wird.
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Schlögel, Herbert
Im Herbst 2018 erschien in Deutschland die von den Kirchen herausgegebene Handreichung Christliche Patientenvorsorge durch Vorsorgevollmachten, Betreuungsverfügung, Patientenverfügung und Behandlungswünsche1 (CPV) in einer aktualisierten Neuauflage. Sie trat an die Stelle der gleichnamigen Ausgabe von 2011 und hatte auch schon ein Vorgängerdokument Christliche Patientenverfügung mit Vorsorgevollmacht und Betreuungsverfügung (1999).2 Bereits der veränderte Titel zeigt, dass sich die Perspektive in den Jahren gewandelt hat. Unmittelbar hat dies mit gesetzlichen Veränderungen zu tun, die auf Erfahrungen im Umgang mit Patientenverfügungen fußten.
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Wetzstein, Verena
Demenzen sind nicht nur eine zentrale Herausforderung der Moderne. Demenzen im Alter stellen für die gegenwärtige Gesellschaft vielmehr eine regelrechte Provokation dar: Die Zahl alter und hochaltriger Menschen mit einer Demenz-Diagnose nimmt zu, Kinder als Betreuungspersonen wohnen in der Regel weit entfernt, bezahlte Pflege ist nicht nur eine Frage des Geldes sondern auch des fehlenden Personals. Hinzu kommt: Im Verlauf des fortschreitenden Demenzprozesses zurückgehende rationale Handlungsmöglichkeiten von Menschen mit Demenz erfüllen kaum die Anforderungen, die moderne Gesellschaften an ihre Mitglieder stellen.
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Nordhofen, Eckhard
Der Begriffspoet Peter Sloterdijk geizt nicht mit Worterfindungen. Alle kann man sie nicht behalten. Bei einer aber ging in mir ein Lämpchen an. Er vermisst im Zeitalter «nach Gott» - so sein Buchtitel die «Vertikalspannung» und wegen dieses Phantomschmerzes scheint ihm auch nicht endgültig ausgemacht, dass wir tatsächlich in einem solchen Zeitalter «nach Gott» leben. In einem DLF-Interview kokettiert er ein wenig mit der Präposition «nach». Statt für post Deum, könnte man sich auch für, secundum Deum entscheiden.
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Maier, Hans
Der 1881 auf einem Schloss in der Auvergne geborene Edelmann Pierre Teilhard de Chardin, der schon mit siebzehn Jahren der Gesellschaft Jesu beitrat, war in naturwissenschaftlichen Fachkreisen längst kein Unbekannter mehr, als er 1955 im Alter von 73 Jahren in New York verstarb. Auf paläontologischen und biologischen Fachkongressen der Nachkriegszeit war er ein gern und häufig gesehener Gast gewesen. Aber seine wissenschaftliche Laufbahn, deren äußere Höhepunkte die Mitwirkung an der Entdeckung des Sinanthropus und die Teilnahme an der «Gelben Kreuzfahrt» in China in den Jahren 1931/32 waren, hatte sich in aller Stille vollzogen, ohne in der Öffentlichkeit auffällige Spuren zu hinterlassen. Abgesehen von einigen Jahren als Lehrer an einer französischen Schule in Kairo und später am Institut Catholique in Paris, hatte Pater Teilhard niemals ein öffentliches Amt bekleidet und war auch öffentlichen Diskussionen seines Werkes eher ausgewichen, als dass er sie gesucht hätte.
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Novotny, Vojtech
Das Leid, das mit dem Nichterhören eines Bittgebets einhergeht, ruft wie ich überzeugt bin das intensivste, wahrlich existenziale Erlebnis des Dilemmas hervor, das Lactantius im sog. argumentum Epicuri formulierte: «Entweder will Gott die Übel beseitigen und er kann es nicht, oder er kann es und will es nicht, oder er will es nicht und kann es nicht, oder er will es und kann es. Falls er es will, es aber nicht kann, dann ist Gott schwach, was auf ihn nicht zutrifft. Falls er es kann und es nicht will, dann ist er missgünstig, was Gott fremd ist. Falls er es weder will noch es kann, dann ist er schwach und missgünstig zugleich, also nicht Gott. Falls er es will und es auch kann, was allein für Gott ziemt: Woher kommen dann die Übel und warum nimmt er sie nicht hinweg?»1 Aufs Neue erschallt ein solches Fragen überall dort, wo man mit Leid und mit dem Bösen konfrontiert wird. Um wieviel radikaler klingt es erst in dem Augenblick, wenn wir fragen, warum Gott ein Übel nicht beseitigte und etwas Gutes nicht bewirkte, obwohl wir ihn darum mit Vertrauen, im Namen des Herrn Jesus Christus gebeten und in ihm dabei den guten, allmächtigen Vater gesehen hatten!
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Zaborowski, Holger
Das Altern scheint kein Thema für die gegenwärtige Philosophie zu sein. Das erstaunt, gibt es in der klassischen philosophischen Tradition doch zahlreiche, bis heute lesenswerte Abhandlungen über das Altern. Außerdem gehört das Altern zu den Grundphänomenen des Menschseins. Daher ist es erfreulich, dass Otfried Höffe sich in seinem jüngsten Buch der «hohen Kunst des Alterns» zugewandt und eine auf das Altern bezogene «Kleine Philosophie des guten Lebens» vorgelegt hat.
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Braun, Michael
So eifrig die Dichter vom Fall der Berliner Mauer geschrieben haben, so sehr haben sie von ihrem Bau und ihrer Existenz geschwiegen. Was hat es da zu bedeuten, wenn Reiner Kunze ausgerechnet am ersten Tag der neuen Deutschen Einheit an die Mauer erinnert? «Zum 3. oktober 1990» hat er sein Gedicht geschrieben. Dieses Widmungsdatum steht im Erstdruck, der in der Anthologie Grenzfallgedichte (1991) erschien. In den Werkausgaben, dem Band ein tag auf dieser erde (1998) und den Gesammelten Gedichten (2001), fehlt es indes.
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