Aktuelle Ausgabe

Chiliasmus - einst und heute

Ausgabe: 6/2019
48. Jahrgang
 

Chiliasmus - einst und heute (6/2019)

Chiliasmus - einst und heute

Tück, Jan-Heiner

Chiliasmus - das ist die Erwartung eines tausendjährigen Friedensreiches, das vor dem Ende der Welt auf Erden aufgerichtet wird. Der Begriff stammt aus der Offenbarung des Johannes. Hier, und nur hier findet sich die Verheißung eines Reiches, in dem die Märtyrer «mit Christus tausend Jahre» (gr. chilia ete) herrschen werden (Offb 20, 4). Der Chiliasmus ist ein vielschichtiges Phänomen mit einer komplexen Geschichte. Er trägt (1.) ein Moment der Unruhe und Erwartung in den Zeitbegriff ein. Zeit ist im Chiliasmus nicht leer und homogen, sondern gespannt wie ein Bogen, der den Pfeil auf einen Punkt in der Zukunft richtet: das baldige Kommen des Reiches.

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Ein entscheidendes Übergangskapitel

Gradl, Hans-Georg

Wer die Johannesoffenbarung liest, watet knöchelhoch durch Blut. Propheten und Heilige werden hingeschlachtet (Offb 16, 6; 18, 24). Leichen liegen auf den Straßen (Offb 11, 8). Mehrfach geht die Welt in Flammen auf. Ein fuchsfeuerroter Drache trachtet den Christen nach dem Leben (Offb 12, 4). Im Himmel wurde er zwar bereits besiegt. Für die Erde aber bedeutet dies nichts Gutes: Tödlich getroffen rüstet er sich - in einem letzten Aufbäumen - zum Krieg. Alles drängt auf diese entscheidende Schlacht zu: zwischen den Heeren des Lammes und der militärisch übermächtig erscheinenden Streitmacht des Drachen. Er ruft Schergen an seine Seite: Monster, die aus dem Meer aufsteigen und aus dem Land hervorkriechen. Das Böse hat stets konkrete Gesichter.

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Das Reich hat schon begonnen

Tück, Jan-Heiner

Theologie und Kirche haben im 2. und 3. Jahrhundert den Realismus des Auferstehungsglaubens gegen gnostische Verflüchtigungen entschieden verteidigt. Christus hat die Auferstehung nicht nur simuliert, nicht nur ein Scheinleib ist von den Toten erweckt worden, nein, der Gekreuzigte ist wahrhaft auferstanden! Mit deutlich antignostischer Stoßrichtung ist das Bekenntnis zur resurrectio carnis in nahezu alle altkirchliche Symbola übernommen worden, und Tertullian hat den Realismus des Auferstehungsglaubens in seiner Schrift De resurrectione carnis programmatisch zur Geltung gebracht...

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Ins Zeitalter des Heiligen Geistes

Prügl, Thomas

Kein anderer Text regte das Mittelalter so sehr an, über die Deutung von Geschichte nachzudenken, wie die Offenbarung des Johannes. Die Betrachtungen über die Endzeit, apokalyptische Zeichen, die dem Endgericht vorausgehen, und nicht zuletzt die leitmotivische Zahl Sieben (7 Gemeinden, 7 Siegel, 7 Posaunen, etc.), luden Schriftausleger und Chronisten dazu ein, die Geschichte als festgelegten Plan Gottes zu dechiffrieren, der seine Struktur vom Ziel der Geschichte, dem Endgericht, her erhält. Unter dem Einfluss der Offenbarung des Johannes überwog im hohen Mittelalter letztlich auch die Vorstellung von sieben Zeitaltern, wodurch die ältere Vorstellung von sechs Weltzeitaltern, die bei Augustinus noch vorherrschte, modifiziert wurde.

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Leben wir in der Endzeit?

Hempelmann, Reinhard

Die religiös motivierte Erwartung eines innerweltlichen tausendjährigen messianischen Friedensreiches, auch bezeichnet als Chiliasmus (von chilia ete, griech.: tausend Jahre) bzw. als Millenarismus (nach millenarius, lat.: tausendjährig) hat Menschen fasziniert, motiviert und in Bewegung gesetzt, manchmal auch zu Fanatikern gemacht. Märtyrer haben für das Tausendjährige Reich gelitten, religiöse Minderheiten haben dafür ihr Leben riskiert. In der Geschichte des lateinischen Christentums war der Chiliasmus vor allem eine Protestbewegung gegen die offizielle Religion. Im deutschsprachigen Kontext wird eher von Chiliasmus, im englischsprachigen eher von Millenarismus gesprochen. Die Schreibweisen variieren - auch im deutschsprachigen Bereich: Millennarismus, Milleniarismus, Millennialismus, etc. Die Vertrautheit mit Inhalten, Vorstellungswelten und Begrifflichkeiten chiliastischer Zukunftserwartung ist im Kontext kontinentaleuropäischer Religionsforschung und Theologie nur begrenzt gegeben.

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Wieviel Chiliasmus steckte im Bolschewismus und Nationalsozialismus?

Kiesel, Helmuth

In der Schreckensgeschichte des 20. Jahrhunderts könnten chiliastische Vorstellungen eine nicht unerhebliche Rolle gespielt haben: Sowohl der Bolschewismus als auch der Nationalsozialismus scheinen auf eine vage, aber unübersehbare Weise chiliastisch motiviert gewesen zu sein. Darauf wurde schon früh hingewiesen: Die ersten Schriften, die dem Bolschewismus chiliastische Züge bescheinigten, stammen vom Beginn der 1920er Jahre, und gegen Ende dieser Dekade begann man auch den Nationalsozialismus unter diesem Aspekt zu mustern. Die Geschichtsforschung hat seitdem - inspiriert vor allem durch Eric Voegelins grundlegendes Buch Die politischen Religionen (Wien/Stockholm 1938) - umsichtige und aufschlussreiche Arbeiten zu diesem Thema vorgelegt, doch sind die Befunde aufgrund der Vielfalt der historischen Quellen und der Vagheit der Terminologie, die sowohl in den Quellen als auch in der Forschungsliteratur zu beobachten ist, mit allerlei Unsicherheiten behaftet.

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Mehr als alles, was der Fall ist

Habermas, Jürgen

Soeben ist von Jürgen Habermas das lange erwartete zweibändige Werk Auch eine Geschichte der Philosophie zur Geschichte der Herausbildung des modernen säkularen Denkens erschienen: Eine eindrucksvolle und quellenreiche Studie entlang der permanenten Auseinandersetzung zwischen Glauben und Wissen. Der Journalist und Theologe Henning Klingen hat am 22. Oktober 2019 in Starnberg mit Jürgen Habermas über sein neues Opus gesprochen.

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«Diese Synode ist ein Notschrei»

Schönborn, Christoph Kardinal

Die Amazonien-Synode, die Dringlichkeit einer ökologischen Umkehr und neue Wege in der Pastoral

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Kirche als Moralagentur?

Neuhaus, Gerd

Als im Jahr 2001 der zweite Golfkrieg ausbrach, löste dies den Protest vieler Menschen aus. In Duisburg erlebte ich seinerzeit, wie Demonstranten dabei eine große Kreuzung besetzten und damit den Straßenverkehr blockierten. Nun war die Wahrscheinlichkeit sehr gering, dass der amerikanische Präsident, gegen den sich dieser Protest im Letzten richtete, diese Kreuzung zum genannten Zeitpunkt überqueren würde. Aber es stellte sich heraus, dass es genügend andere Menschen gab, die das hohe Gut des Weltfriedens offensichtlich nicht angemessen zu schätzen wussten und die auf diesem Wege über dessen Bedeutung aufzuklären waren.

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Gelehrter und Kosmopolit

Maier, Hans

Am 19. September 2019 starb Prof. Dr. Dr. h.c. mult. Nikolaus Prinz Lobkowicz nach langer Krankheit im 89. Lebensjahr in Starnberg. Mit ihm ist ein Gelehrter und Kosmopolit aus einem alten böhmischen Fürstengeschlecht, ein international anerkannter katholischer Philosoph und Hochschulpolitiker und nicht zuletzt ein früher und prägender Mitarbeiter und Mitherausgeber dieser Zeitschrift dahingegangen.

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Du sollst das Werk nicht mit dem Autor verwechseln

Lewitscharoff, Sibylle

Peter Handke ist ein Schriftsteller, der eine Vielzahl überragend guter Bücher geschrieben hat, ich greife nur wenige heraus: Wunschloses Unglück über den Selbsttod seiner Mutter – zart, ergreifend und exzellent geschrieben. Von hinreißender Komik sind die vier schmalen Bände Versuch über die Jukebox, Versuch über den geglückten Tag, Versuch über die Müdigkeit, Versuch über den Stillen Ort. Der freischwebende Humor, die Heiterkeit, die Brillanz der Sätze, die darin ein winziges Panoptikum der Ungeschicklichkeit und Wonnen alltäglicher Verrichtungen aufführen, sind hinreißend. Als präziser Beobachter von Landschaften, von Tieren und Pflanzen, steht Peter Handke in der Tradition Adalbert Stifters, er kann es in puncto geschärfter Blick fürs Detail aber auch locker mit Francis Ponge aufnehmen.

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Unverfügbarkeit und gelingendes Leben

Mayer, Tobias

Den Büchern des Soziologen Hartmut Rosa gelingt es, einleuchtende Metaphern für die Weltwahrnehmung und die Problemhorizonte der Gegenwart zu finden. So war es mit der Studie Beschleunigung. Die Veränderung der Zeitstrukturen in der Moderne (2005) und mit Resonanz. Eine Soziologie der Weltbeziehung (2016). Ähnliches lässt sich für den 2018 erschienenen, schmalen Band sagen, der schlicht Unverfügbarkeit überschrieben ist. Der 130-seitige Essay ist eine Art Nachtrag zu Rosas Resonanztheorie. Das Motiv der Unverfügbarkeit spielte schon dort eine nicht unwesentliche Rolle, wird nun aber als herausragender Faktor der Resonanztheorie ins Licht gesetzt.

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Verdichtungen

Mörike, Eduard

Kunstwerke sind immer auch Resonanzräume anderer Kunstwerke. Die Bach-Kantate BWV 123 enthält eine wunderbare Bass-Arie, deren erste Strophe lautet: «Laß, o Welt, mich aus Verachtung / In betrübter Einsamkeit! / Jesus, der ins Fleisch gekommen / Und mein Opfer angenommen, / Bleibet bei mir allezeit.» Dieser Sprecher Bachs ist nie allein, so sehr ihn die Welt mit «Verachtung» strafen mag und so sehr er selbst die Welt verachtet. Der hier doppeldeutige contemptus mundi - wer verachtet wen? - ist ein seit der Antike verbreiteter Topos. Wie gut Mörike Bach gekannt hat, lässt sich schwer sagen. Aber es würde sehr gut passen, Verborgenheit auch als Resonanz auf Bach zu verstehen.

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