Sichtbarwerdung des Unsichtbaren (2/2022)
Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara
Der Literaturtheoretiker George Steiner (1929-2020) legte 2001 eine Grammatik der Schöpfung1 vor, eine Abwandlung der klassischen Metapher vom «Buch der Welt». Es handelt sich um den vertrauten Gedanken, die Offenbarung Gottes sei nicht allein in der Schrift, sondern auch und anders in seiner eigenen Schöpfung zu lesen: Es gebe also eine doppelte Ausformung des göttlichen Urwortes. Zur Illustration das zauberhafte Gedicht August von Christine Busta
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Marion, Jean-Luc
Der christliche Glaube muss das, was er glaubt, auch denken können - außer wenn er nur zu glauben meint oder wenn er sich einbildet, etwas zu glauben, ohne zu wissen, was er zu glauben behauptet. Und dieser Glaube glaubt erst, kann erst dann überhaupt irgendetwas glauben, wenn er zugibt (und somit auch versteht), dass Jesus den Titel als Christus (Messias) nur deshalb beanspruchen konnte, weil er sich stets als Sohn des Vaters vorstellte und heute noch vorstellt: «Ich bin im Vater und der Vater ist in mir [-] Glaubt mir: Ich bin im Vater und der Vater ist in mir.» (Joh 14,10-11). Der Christus-Titel ist nur insofern sinnvoll und berechtigt, als er von dieser offenkundigen Sohnschaft gestützt wird, die selbst jene ansprechen, die daran Anstoß nehmen. Ja, gerade deswegen, wegen seiner Verbundenheit mit dem Vater, wurde Jesus verurteilt.
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Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara
Um den Satz Jesu aus der letzten Rede Jesu an die Zwölf (Joh 14,9) für das Verstehen vorzubereiten, muss der Charakter des Sehens selbst ins Auge gefasst werden. In seiner Tiefe ruht eine Entscheidung: nicht was, sondern wie gesehen wird. Sehen ist ein Hervorbringen - nicht des Gegenstandes, sondern seiner Bedeutung. amor oculus intellectus, «Liebe ist das Auge der Einsicht», so Richard von St. Victor (1110-1178) Das Mittelalter schuf in Plastik und Gemälde noch Gesichter, in denen die Augen weit auseinanderstehen: nicht ein Zeichen der Unfähigkeit des Künstlers, sondern ein Zeichen anderer Wahrnehmung. Dieser offene Blick setzt Wirklichkeit nicht in einen Ausschnitt, sondern lässt sich das Ganze «zukommen», omnia simul. Die Wirklichkeit brandet gleichsam gegen das Sehfeld an und drängt die Augen nach außen und seitwärts.
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Dohmen, Christoph
Die biblische Erzählung stelle, so der Literaturwissenschaftler Stéphane Mosès in einer seiner Bibellektüren, die Sinaioffenbarung als Sprachereignis dar. «Daß diese Gotteserscheinung von der Bibel als ein rein sprachliches - und nicht visuelles - Phänomen aufgefasst wird, unterstreicht ein Vers aus dem Deuteronomium (4,12): "Der Herr sprach zu euch mitten aus dem Feuer. Ihr hörtet die Stimme, Worte. Eine Gestalt habt ihr nicht gesehen. Ihr habt nur eine Stimme gehört." (-) Wenn die Bibel den rein sprachlichen Charakter der Sinaioffenbarung betont, so möchte sie damit das Wesen der Offenbarung überhaupt bestimmen.»1
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Söding, Thomas
Nach dem Johannesevangelium sind die ersten Jünger Jesu zuvor bei Johannes dem Täufer in die Schule gegangen. Er selbst führt sie zu Jesus. Denn nach der Taufe, bekennt er, ist ihm aufgegangen, dass Jesus Gottes Sohn ist, vom Geist Gottes erfüllt (Joh 1,33-34). Deshalb kann er ihn öffentlich als «Lamm Gottes» bezeugen, das «hinwegträgt die Sünde der Welt» (Joh 1,29).1 Dieses Bekenntnis wiederholt er vor zweien seiner Jünger, indem er seinen und ihren Blick auf Jesus richtet, den er sieht, wie er vorübergeht (Joh 1,35-36), weil er sich auf den Weg macht, Kunde von Gott zu bringen (Joh 1,18).2 Die Jünger folgen dem Blick und dem Wort des Täufers: Sie gehen hinter Jesus her.
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Baumann, Notker
Am Weihnachtsfest und am Fest der Taufe des Herrn wird eine Lesung aus dem Titusbrief vorgetragen, in der es heißt: «Die Gnade Gottes ist erschienen, um alle Menschen zu retten» (Tit 2,11). Der Beginn des Epheserbriefes (Eph 1) besingt den dahinterstehenden göttlichen Heilsplan: Die Heilsgeschichte erscheint als die sichtbare Seite einer unsichtbaren Wirklichkeit, als spürbares Zeichen göttlichen Handelns, als das Abbild des Heilsplans Gottes in Raum und Zeit. Er wird in dem Maß offenbar, in dem er sich verwirklicht.
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Nordhofen, Eckhard
Wer stolpert, merkt auf. Manchmal macht Stolpern klug. Wie oft wird es vorgekommen sein, dass jemand über die Tatsache gestolpert ist, dass die Christenheit, die sich doch von den Zehn Geboten des Alten Testaments mit ihrem sogenannten Bilderverbot niemals verabschiedet hat, schon im ersten Jahrtausend einen so stupenden Reichtum an gemalten Bildern auf den Wänden von Katakomben und Kirchen und schließlich auf verehrten Holztafeln, den Ikonen, hervorgebracht hat?
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Bormann, Franz-Josef
Es ist ein Gemeinplatz der begriffsgeschichtlichen Forschung, dass das Verständnis sprachlicher Ausdrücke einem beständigen Wandel unterliegt. Auch die zentralen Kategorien unserer Moralsprache - wie z.B. Freiheit, Gerechtigkeit, Würde und Autonomie - bestätigen diesen Befund. Wer sich mit ihrer langen und verwickelten Geschichte beschäftigt, der kann nicht nur erkennen, wie sich allmählich bestimmte klassische Sinngehalte herauskristallisiert haben, er wird auch Zeuge von vielfältigen Abgrenzungs- und Anwendungsproblemen, inflationären Ausweitungstendenzen sowie dem gezielten Missbrauch und allmählichen Verfall bestimmter Bedeutungsgehalte.
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Hoping, Helmut
Die Welle der Empörung war groß, die über Benedikt XVI. nach der Präsentation des Missbrauchsgutachtens für die Erzdiözese München und Freising am 20. Januar 2022 hereinbrach. Dabei hatte die Kanzlei Westphal Spilker Wastl (WSW), die Reinhard Kardinal Marx mit dem Gutachten beauftragt hatte, keinen einzigen gerichtsfesten Beweis dafür vorlegen können, dass Joseph Ratzinger in seiner Amtszeit als Münchener Erzbischof (1977-1982) sexuellen Missbrauch Minderjähriger durch Priester vertuscht hat. Dies mussten die Anwälte der Kanzlei auf Nachfrage auch eingestehen: Es sei «überwiegend wahrscheinlich», dass Ratzinger sexuellen Missbrauch durch Priester vertuscht habe. Die staatsrechtliche Unschuldsvermutung wurde so geradezu in eine Schuldvermutung umgekehrt.
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Schuler, Christian
Wer war Jesus? Eine Frage, die seit 2000 Jahren von Menschen unterschiedlichster regionaler und geistiger Herkunft gestellt wird. Eine Frage auch, die ins Unermessliche zu führen droht, wollte man sämtliche Interpretationen der Gestalt aus Nazareth berücksichtigen, die im Laufe der Geschichte erprobt und ersonnen wurden. Man käme an kein Ende. War Jesus ein Schwindler (Talmud), ein Gesandter Gottes (Islam), eine Offenbarung des Göttlichen (Bahai), ein Meister-Yogi (Ramakrishna), die große Seele (Tagore)? War er ein Utopist (Ernst Bloch), gar ein sozialistischer Revolutionär (Friedrich Engels) oder schlicht ein «maßgebender Mensch» (Karl Jaspers)? Oder vielleicht ein Psychopath, wie der Arzt und Schriftsteller Oskar Panizza meinte?
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Stoll, Christian;Tück, Jan-Heiner
Die russische Invasion in die Ukraine hat bei den Kirchen eine ökumenisch seltene Einmütigkeit des Protests provoziert. Der Heilige Stuhl, der Ökumenische Rat der Kirchen, vereinzelte Kardinäle und Bischöfe, aber auch die Europäische Gesellschaft für katholische Theologie und mehrere Fakultäten haben sich entsprechend zur Wort gemeldet, ihre Solidarität mit den Betroffenen geäußert und ein sofortiges Ende des Krieges gefordert. Nur die Russisch-Orthodoxe Kirche tut sich schwer. Insbesondere der Moskauer Patriarch Kyrill I. weigert sich bislang, den völkerrechtswidrigen Krieg klar zu verurteilen und auf Präsident Wladimir Putin einzuwirken, dass dieser die Waffen ruhen lasse und zum Verhandlungstisch zurückkehre. Der Patriarch nimmt zu euphemistischen Wendungen seine Zuflucht, bezeichnet die Gegner Russlands als «Kräfte des Bösen» und liefert fragwürdige religiöse Rechtfertigungen für den Krieg.
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Maier, Hans
Am 24. Februar um 05:28 Uhr marschierten russische Bodentruppen an mehreren Stellen in die Ukraine ein. Der Angriff galt, wie sich rasch herausstellte, dem gesamten Land. Auch aus der Luft wurde die Ukraine bombardiert. Zuvor hatte Wladimir Putin in einer Fernsehansprache das Existenzrecht der Ukraine als selbständiger Staat in Frage gestellt. UNO-Generalsekretär Guterres sprach von dem schwersten Konflikt in Europa seit Jahrzehnten.
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