Aktuelle Ausgabe

Erinnern und vergessen

Ausgabe: 5/2023
52. Jahrgang
 

Erinnern und vergessen (5/2023)

Editorial

Tück, Jan-Heiner

«Nicht vergessen, nicht verdrängen!» - so lauten die Imperative der kritischen Aufarbeitung der Vergangenheit des Dritten Reiches. Gegen einigen Widerstand wurden nach 1945 Maßnahmen der Entnazifizierung durchgeführt, die Verbrechen aufgeklärt, die NS-Täter, ihre Helfer und Helfershelfer überführt und teils juristisch geahndet. Gegen Strategien des Vertuschens und Verdrängens wurde aus Solidarität mit den Verstummten und Vernichteten, vor allem den Juden, aber auch anderen Opfern des Nationalsozialismus, eine memoria passionis gefördert...

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Vergessen als Modus der Lehrentwicklung

Seewald, Michael

Milan Kundera schrieb fast zwei Jahrzehnte nach seinem Welterfolg über Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins einen kleineren Roman, den der von Prag nach Paris emigrierte Schriftsteller in französischer Sprache verfasste: L'ignorance. Erzählt wird darin von Irena, einer tschechischen Emigrantin, die nach dem Fall des Eisernen Vorhangs ihre alte Heimat besucht und feststellt, dass die Dortgebliebenen sich nicht nur an anderes erinnern als sie selbst, sondern auch andere Dinge vergessen haben.

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«Ich vergesse, was hinter mir liegt»

Schwienhorst-Schönberger, Ludger

In seinem wohl persönlichsten Brief, dem Brief an die erste christliche Gemeinde, die Paulus um das Jahr 49 / 50 n. Chr. auf europäischem Boden gegründet hat, kommt der Apostel in emphatischer Weise auf den Bruch zu sprechen, der sein Leben in ein Vorher und ein Nachher unterteilt. Im Rückblick auf seine frühere Lebensweise bekennt sich Paulus zu einer dramatischen Spannung, die sein gegenwärtiges Leben durchzieht: ...

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Lethe und Eunoë

Tück, Jan-Heiner

Der Tod ist ein Komplize des Vergessens. Er droht die Namen der Verstorbenen dem Gedächtnis der Lebenden zu entreißen. Neben dem privaten Totengedenken gibt es die öffentliche Begräbniskultur, die sich mit Stelen und Monumenten dem Verblassen der memoria widersetzt. Auch hilft die Schrift, die Vergangenes festhalten und Abwesendes anwesend machen kann. Listen memorieren die Namen der Verstorbenen, literarische Zeugnisse können etwas vom Leben und Wirken der Toten gegenwärtig halten.

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Nur vergessen? Nein: weit mehr!

Gerl-Falkovitz, Hanna-Barbara

In der Geschichte des Denkens, die auch eine Geschichte der Polemik ist, sind zwei Städte, zwei Orte des Zugangs zu Wahrheit, immer wieder gegeneinander ausgespielt worden. «Was hat Athen mit Jerusalem zu tun?» So schon Tertullians schlagende und abweisende Frage, die der russisch-jüdische Religionsphilosoph Leo Schestow (1866-1939) herausfordernd und verstörend wieder aufnimmt, um die «Hure Vernunft», wie Luther sie nennt, zuschanden werden zu lassen. Dafür nimmt er zuerst Paulus, dann Plotin und Kierkegaard als Zeugen und schließt an sie eine höchst eigenwillige These an.

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Vergiss das Böse!

Maier, Hans

Vergessen als Pflicht, öffentlich verordnetes, von allen Seiten feierlich beschworenes Vergessen - das scheint gegenwärtig in höchstem Maß unzeitgemäß zu sein. Es ist jedenfalls nicht das, was uns beim Thema Kriegsende, Friedensschluss, Frieden zu allererst in den Sinn kommt. Eher liegt im Augenblick. wenn es um vergangene Schuld geht, das Gegenteil nahe, nämlich die Maxime: Nie und niemals vergessen! Der angesehene deutsche Politiker Hans-Jochen Vogel gründete 1993 sogar einen Verein «Gegen Vergessen - Für Demokratie e.V.» Er errichtete Gedenkstätten und kümmerte sich um Opfer im «Erinnerungsschatten», die sonst Gefahr liefen, vergessen zu werden.

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«Amnestia» als Weg zum Frieden

Kühlmann, Wilhelm

Als junger Jesuit stand der später in ganz Europa berühmte neulateinische Dichter Jacob Balde, aus dem vorderösterreichischen Elsaß vertrieben und fortan in bayerischen Diensten, in Ingolstadt trauernd und verehrungsvoll am Katafalk des eben verstorbenen katholischen Feldherrn Tilly (1632). Seit den späten zwanziger Jahren hat Balde so kontinuierlich wie kein anderer deutscher Autor die Ereignisse, die Protagonisten (neben Tilly z. B. auch Wallenstein) und die geistigen Hintergründe des Dreißigjährigen Kriegs in Klagen, Anklagen, Appellen und Protesten poetisch kommentiert.

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Homers Vergessensgebot, reflektiert von Botho Strauß

Kiesel, Helmuth

Im Frühjahr 1996 wurde in den Münchner Kammerspielen ein gleichzeitig bei Hanser publiziertes Stück uraufgeführt, das seinem Titel nach weit hergeholt schien, tatsächlich aber das damals heftig diskutierte und bis heute aktuelle Thema der geschichtlichen Erinnerung betraf: Botho Strauß' Ithaka. Schauspiel nach den Heimkehr-Gesängen der Odyssee (München 1996). Gemeint sind die zehn letzten Gesänge der Odyssee, die von der Heimkehr des großen Helden und Dulders Odysseus nach Ithaka erzählen.

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Die «Duineser Elegien»

Greiner, Ulrich

Vor genau hundert Jahren sind Rilkes «Duineser Elegien» im Insel Verlag Leipzig erschienen. Sie zählen zu den bedeutendsten literarischen Werken deutscher Sprache, sie bilden einen seitdem nie mehr erreichten Höhepunkt. Und sie stammen von einem Autor, der sich in einem emphatischen, in einem absoluten Sinn als Dichter verstand. Rainer Maria Rilke gehörte zu jenen legendären Poeten, die ihre Tätigkeit nicht als Gewerbe betrieben. Der «Wirtschaftsunterklasse Selbständige Schriftstellerinnen und Schriftsteller», wie sie das Sozialgesetzbuch (SGB IV) vorsieht, gehörte er nicht an.

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Zwischen Präsenz und Vorenthaltung

Neuhaus, Gerd

Im Jahr 2018 veröffentlichte Eckhard Nordhofen sein großes Werk Corpora. Die anarchische Kraft des Monotheismus. Darin rekonstruiert er die Entwicklung des Monotheismus als eine Mediengeschichte, in der sich die sichtbare Bezeugung des unsichtbaren Gottes immer wieder der menschlichen Neigung entwindet, sich seiner zu bemächtigen und ihn für die eigenen Zwecke zu instrumentalisieren.

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Ein Kommentar, der zu Denken einlädt

Mallmann, Bernard

Biblische Texte tragen eine Botschaft in sich, die immer wieder neu zu ergründen ist. Eine Auslegung zielt darauf, biblische Worte zu erklären und verständlich zu machen. Damit zeigt sich, dass das «Gotteswort im Menschenwort» (DV 12) einen Bezug zur konkreten Lebenswirklichkeit hat. Dieser Gegenwartsbezug geht jedoch noch viel tiefer, wenn die Heiligen Schriften des Judentums und des Christentums in die lebendige Beziehung mit dem Gott führen wollen, von dem diese Texte Zeugnis ablegen.

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Die Endlichkeit ist kein Absprungbrett, sondern Ort der Vollendung

Pachta-Reyhofen, Xandro

Wer sich theologisch ernsthaft mit dem Transhumanismus auseinandersetzen will, wird im deutschsprachigen Raum um die Arbeiten des Schweizer Nachwuchstheologen Oliver Dürr nicht herumkommen. Dürr zählt zu den Stimmen, die Transhumanismus und Christentum grundsätzlich für unvereinbar halten. Er will ihn als Weltanschauung kritisieren und ihm eine eigene, christliche Deutung entgegenstellen. Soeben erschien sein Buch Transhumanismus - Traum oder Alptraum?

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«Denk dir»

Tück, Jan-Heiner

Das Datum des 7. Oktober 2023 wird in das kollektive Gedächtnis Israels eingehen. Die Geheimdienste haben versagt, die Armee war nicht vorbereitet. An einem Sabbat, dem Fest der Tora, wurden vom Gazastreifen aus tausende Raketen auf Israel abgeschossen. Gleichzeitig haben Mordbrigaden der Hamas den Sperrzaun an 29 Stellen durchbrochen und sind in die umliegenden Dörfer vorgedrungen. Sie haben unschuldige Zivilisten ermordet, Frauen vergewaltigt, Geiseln genommen, darunter Kinder, Alte und Frauen. Sie haben Menschen wie Tiere abgeschlachtet, die Leichen verstümmelt und ihr bestialisches Verhalten in den sozialen Netzwerken zur Schau gestellt.

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